Rike hat lange über Newtons Vorwürfe nachgedacht: Sie spinnt jawohl mit ihrer Forderung, die 1. Ableitung der Funktion f(y) an der ersten Näherung y0 soll ungleich Null sein:
f(y0) ≠ 0,
hat Newton gerufen. Das ist doch Standard bei diesem Verfahren und geometrisch offensichtlich. Eine waagerechte Tangente kann keinen Schnittpunkt mit der y-Achse haben.
Als Charly mit seiner Klasse in ein Volleyball-Trainingslager fährt, färbt sie sich die Haare silbergrau, deckt sich mit Chips und Cola ein und sucht Newtons Original. Bloß gut, dass die University of Cambridge Newtons Arbeiten digitalisiert und online gestellt hat! Sie sieht fast die gesamte Abhandlung Fluxes durch, das ist Newtons Darstellung der Differential- und Integralrechnung, und findet schließlich nach einem Hinweis von Wiki das Papier:
Newtons Original zum Newtonverfahren
Newton beschreibt in einer einseitigen Notiz innerhalb seiner Fluxes-Arbeit, wie er näherungsweise die Nullstelle des Polynoms
y³ - 2y – 5 = 0 (1)
sucht.
Newtons 1. Ansatz
Die Nullstelle liegt nahe bei
y0 = 2.
Er will sie relativ genau bestimmen, eine Stelle nach dem Komma – so wie in der allerbesten Skipistenaufgabe – das reicht ihm nicht aus. Er macht den Ansatz für y:
y = 2 + p. (2)
p ist dann relativ klein. Diesen Ansatz (2) setzt er in die Ausgangsgleichung (1) ein und erhält die Gleichung
p³ + 6p² + 10p – 1 = 0. (3)
Hier lässt er die quadratischen und kubischen Terme weg, weil ja p sehr klein ist. Dann bleibt nur noch die lineare Gleichung
10p – 1 = 0
zu lösen:
p = 0.1.
So verbessert er die Genauigkeit. Statt
y0 = 2
findet er die neue Näherung
y1 = 2.1.
Jetzt macht er genauso weiter.
Newtons 2. Ansatz
Mit dem 2. Ansatz für p:
p = 0.1 + q (4)
erhält Newton nach Einsetzen in die Gleichung (3) die folgende neue Gleichung:
q³ + 6.3q² + 11.23q + 0.061 = 0. (5)
In (5) lässt er wieder kubische und quadratische Terme weg:
11.23q + 0.01 = 0. (6)
Die Lösung von (6) ist
q = –0.0054.
Damit verbessert er seine Näherung der Nullstelle nochmals und erhält
y2 = 2.0946
Newtons 3. Ansatz
Mit dem nächsten Ansatz für q:
q = –0.0054 + r (7)
will er die Näherung noch genauer machen und setzt den Term (7) in die Gleichung (5) ein. Genau wie Rike in seiner Arbeit lesen kann, erhält er schließlich die lineare Gleichung
0.0005416 + 11.23r = 0
und kann die nach r auflösen:
r = –0.00004852.
Damit erhält er seine dritte Näherung:
y3 = 2.09455148.
Newton notiert den nächsten Ansatz. Rike denkt, die Genauigkeit sollte dann reichen. Aber was ergibt das eigentliche Newtonverfahren?
Das Newtonverfahren für Newtons Polynom
Rike freut sich. Sie erhält genau dieselben Ergebnisse mit der Vorschrift
Sie wundert sich, dass Newton keine Zeichnung gemacht hat, keine Tangente angelegt hat und auch nicht die Vorschrift des Newtonverfahrens benutzt hat, wohl aber die Bedingung, dass der Startwert y0 nahe der Nullstelle liegt.
Rikes Beispiel
Rike sucht nun ein Beispiel eines Polynoms f1(y) mit reellen Nullstellen. Sie möchte einen Startwert y0 wählen, der wie bei Newton mindestens bis auf eine Stelle nach dem Komma nahe einer Nullstelle liegt, aber eine verschwindende 1. Ableitung hat:
f1'(y0) = 0.
Wie funktioniert dann Newtons originale Idee mit den Ansätzen?
Sie findet das Polynom
f1(y) = y³ + 2.5y² + 2.06y + 0.56.
Es hat zwei Stellen y mit waagerechter Tangente.
Rikes Anwendung der newtonschen Originalmethode
Sie wählt einen davon als Startwert:
y0 = –0.7451416 (8)
Dann macht sie den newtonschen Ansatz
y = y0 + p
= –0.7451416 + p. (9)
Sie setzt diesen Ausdruck (9) in
f1(y) = y³ + 2.5y² + 2.06y + 0.56 = 0 (10)
ein. Nach einiger Rechnerei stellt sie befriedigt fest, dass der lineare Term entfällt, die neue Gleichung heißt:
p³ + 0.264575131p² – 0.0006 = 0 (11)
Newton hatte die kubischen und quadratischen Terme weggelassen und eine lineare Gleichung erhalten, die gut zu lösen war. Jetzt hat sie aus einer Gleichung 3. Grades eine neue Gleichung 3. Grades erhalten! Das ist ja toll! Sie denkt darüber nach und merkt, dass sie viel zu analytisch herangeht. Sie will ja nur eine Näherungslösung haben. Was würde Newton machen?
Die 1. newtonsche Idee
Newton würde das Absolutglied in (11) weglassen, es ist in er Größenordnung von 10-4, das ist wirklich sehr klein:
p³ + 0.264575131p² = 0 (12)
Das ergibt zwar wieder eine kubische Gleichung, die aber leicht aufzulösen ist:
p² ∙ (p + 0.264575131) = 0.
Die einzige nichttriviale Lösung ist
p1 = –0.264575131
Daraus erhält Rike ihre erste Näherung y1(1) zum Startwert y0:
y1(1) = y0 + p1
= –1.0097
Die 2. newtonsche Idee
Außerdem würde Newton versuchen, den kubischen Teil in (11) wegzulassen:
0.264575131p² – 0.00006 = 0 (13)
So erhält sie die quadratische Gleichung (13), die sie ebenfalls leicht lösen kann:
p2,3 = ± 0.047621
Aus diesen beiden Näherungslösungen erhält Rike die beiden nächsten Näherungen für die Nullstellen ihres Polynoms f1(y):
y1(2) = y0 + p3
= –0.7927629
und
y1(3) = y0 + p2
= –0.6975203.
Fazit
Mit Newtons Ideen hat Rike 3 Näherungslösungen pi der kubischen Gleichung (11) gefunden. Folglich hat sie auch 3 Näherungslösungen ihres Polynoms f1(y) gefunden. Sie startete mit einem Anfangswert y0, wo das Newtonverfahren normalerweise versagt. Doch welche davon sind brauchbar?
Sie sieht, dass alle 3 Näherungen y1(i) sehr gute Näherungen für die Nullstellen sind. Mit dem Newtonverfahren, das einige Zeit nach Newton von Joseph Raphson und Thomas Simpson verallgemeinert wurde und in der Berechnungsvorschrift
"gipfelt", kann Rike nun weiterrechnen. Gottseidank hat das Polynom hier keine waagerechten Tangenten. So kann sie mit wenigen Schritten eine große Genauigkeit für ihre Nullstellen finden, was Newton bestimmt gefallen würde.
Jetzt ruft sie Charly an und berichtet ihm von ihrem Erkenntnisfortschritt.
***
Übungsaufgaben
- Welches ist Newtons 4. Ansatz?
- Nach wie vielen Iterationen für yi stimmt die 4. Stelle nach dem Komma in Newtons Originalaufgabe?
- Überprüfe die Rechnung mit dem anderen Startwert
y0 = –0.92152504
Lösungen
- r = –0.00004852 + s
- nach der 2. Iteration (n = 2)
- Mit
y0 = –0.92152504 (8')
und dem newtonschen Ansatz
y = y0 + p
= –0.92152504 + p (9')
erhält man durch Einsetzen in (10)
p³ – 0.264575131p² + 0.00211 = 0. (11')
Durch Weglassen des Absolutgliedes erhält man die erste Näherung für p:
p1 = 0.264575131
und
y1(1) = –0.65695
Durch Weglassen des kubischen Terms in (11') erhält man zwei weitere Näherungen für p:
p2,3 = ± 0.08930
und schließlich die Näherungen für die Nullstellen des Polynoms (10)
y1(2) = y0 + p3
= –0.83222
und
y1(3) = y0 + p2
= –1.01082.