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Zutaten: Zucker, Kakaomasse (50%), Milchzucker, Weizenmehl, Vollmilchpulver, Magermilchpulver, Butterreinfett, Sahnepulver, Butter (1,4%)
Kann Spuren von Analysis und Geometrie enthalten.

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Deutschlands absurde Bevölkerungsstruktur und Freizeitanalyse

Als Charly am nächsten Morgen aufsteht, ist Rike längst wach, trinkt Tee und liest ihren Flaubert. Das erinnert Charly an eine weitere Abiaufgabe zur Statistik.

Charly Guten Morgen Rike, schon auf?

Rike Guten Morgen, na klar.

Charly Schon morgens liest du?

Rike Ja, es ist gut für mich.

Charly Da zählst du zu den wichtigsten Spezis aus einer tollen Abiaufgabe.

Rike Ja?

Deutschlands beliebteste Hobbys

Charly Es geht um das Freizeitverhalten. Eine „Studie“ hat herausgefunden, dass bei den Deutschen Fernsehen, Lesen und „Arbeiten mit dem Computer“ beliebt sind.

Rike Das ist ja sehr motivierend für Abiturienten. Fernsehen als Hobby!

Charly Ja, genau, hier in Potsdam haben wir ganz andere Hobbies, vor allem unsere Schüler und Schülerinnen: Fußball, Joggen, Kanu, Rudern, Schwimmen, sie nutzen das Berliner Kulturangebot, Campen, Lagerfeuer, Musik, Familie…, du weißt schon.

Rike Ja, ich hab’s gesehen. Und: „Arbeiten am Computer“? War das nicht eine Freizeitumfrage?

Charly Ja, eine Freizeitumfrage. Eigentlich sollen wir den Bernoulli-Prozess immer betonen, danach gilt: Ein Ereignis tritt entweder ein oder nicht. Entweder Freizeit oder Arbeit.

Rike Ja, „Arbeit am Computer“ in der Freizeit – das ist wirklich missverständlich.

Charly Viele Leute nutzen oft ihr Handy, so wie du und ich. Hören Musik, nutzen soziale Medien, Apps usw. Ich glaube, der Autor der Aufgabe konnte das irgendwie nicht gut formulieren.

Rike Deshalb haben so viele Angst vor den Textaufgaben, man versteht den Sinn nicht so richtig und wird dadurch verunsichert. Müssen es denn unbedingt Textaufgaben sein?

Charly Ich befürchte ja, das ist ein großes Thema der Schulmathematik – die Anwendung der Mathematik als Rechtfertigung für Mathematik selbst. Ich würde lieber andere Aufgaben stellen.

Lesen als Hobby –  sprachliche Formulierung

Rike Ich hoffe, du wirst eines Tages gefragt. Und was ist mit dem Lesen?

Charly Rike, das ist auch nicht besser formuliert, in der 3. Teilaufgabe soll sogar aus dem Leseverhalten von Frauen und Männern der Anteil der Frauen an der Bevölkerung berechnet werden.

Rike Echt jetzt? Das ist ein Witz!? Zeig mal!

Charly Hier!

Zentrale schriftliche Abiturprüfung 2017

Aufgabe 3.2 CAS: Freizeit

Fernsehen ist die mit Abstand häufigste Freizeitbeschäftigung der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahre: 96 % aller Personen sehen mindestens einmal pro Woche fern. Zwei weitere beliebte Freizeitbeschäftigungen der Bevölkerung sind beispielsweise Lesen (Zeitungen, Zeitschriften und Bücher): 72,6 % und Arbeit am Computer: 60,3 %.

[…]

c) 76 % der weiblichen Bevölkerung und 69 % der männlichen Bevölkerung lesen in ihrer Freizeit gern.
Berechnen Sie den Anteil der Frauen in der deutschen Bevölkerung.
Veranschaulichen Sie Ihren Lösungsansatz z. B. durch ein (reduziertes) Baumdiagramm oder eine Vierfeldertafel.

Rike Ja, irgendwie hört sich die Aufgabe total humorlos an.

Charly ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Es ist unglaublich, es ist absurd.

Rike Schon allein sprachlich ist das nicht korrekt. Schau mal, in der Vorrede heißt es: „Zwei weitere beliebte Freizeitbeschäftigungen der Bevölkerung sind […] Lesen“ … Also Lesen als beliebte Freizeitbeschäftigung. Die mathematische Erforschung der Sprache ist heute viel weiter als mancher Mathelehrer glaubt, ich habe mich damit auch ein kleines bisschen zusammen mit meiner Schwester Paula beschäftigt. So kann man jedem Wort, genauer gesagt jedem Lexem, seine Bedeutung zuordnen, warte mal, bei beliebt finde ich 5 wesentliche sogenannte Dornseiff-Bedeutungsgruppen:

  1. als Gewohnheit: alltäglich, stereotyp, traditionell, …
  2. als Liebe: angebetet, verwöhnt, kostbar …
  3. als Lob, Beifall: befriedigend, verdienstvoll, populär, …
  4. als Freundschaft: freundschaftlich, bekannt, familiär ….
  5. als Ehre, Rum: bedeutend, ausgezeichnet, weltberühmt, …

Dieses beliebt hat 5 wesentliche Bedeutungen, in der Einleitung ist wohl die 1. Bedeutung gemeint, in der Teilaufgabe c) ist eher der 3. Sinn gemeint. Man könnte das so verstehen, dass von den 72.6 % mit der beliebten Freizeitbeschäftigung nur ein Teil gern liest? Eins von den 27 Adjektiven im 1. Sinne ist beliebt. Eins von 11 aus der 3. Bedeutungsgruppe. Wie machen wir da weiter?

Entweder Frauen oder Männer?

Charly Haha, Rike, da hast du wieder eine Schwierigkeit entdeckt. Letztlich bleibt der Anteil der gerne Lesenden unklar. Aber weißt du, mir ist noch etwas ganz Anderes aufgefallen. In der Aufgabe wird wieder stillschweigend der Bernoulli-Prozess vorausgesetzt: Entweder Frauen oder Männer. Sollten nicht die Schulbücher besonders offen für gesellschaftliche Neuerungen sein?

Rike Ja klar, es gibt nicht nur Männer und Frauen. Aber hast du ein paar Daten über die Geschlechterverteilung mit mehr als 2 Geschlechtern?

Charly Ich habe beim Statistischen Bundesamt geschaut, da gibt es nur das weibliche und das männliche Geschlecht. Aber – Rike – bei meiner Suche zu den Zahnarztaufgabe habe ich ein paar Studien gefunden, und eine davon berichtet, dass bei einer bundesweiten Umfrage unter Zahnärzten und Zahnärztinnen einige ihr Geschlecht nicht genannt hätten, ich glaube, es waren 0.8 %.

Rike Hey, Charly, das ist ja was. Ist die Studie belastbar?

Charly Ja, warte, hier ist sie: aus der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen von 2015:

Von 2084 Zahnärzten wurden 2080 erreicht. Von diesen kamen 838 Antworten, davon 41.1 % Frauen, 58.1 % Männer und der Rest ohne Angabe.

GeschlechtAbsolute AnzahlAnteil
Frauen34441.1 %
Männer48758.1 %
Keine Angabe70.8 %

Soziodemografische Angaben der Studienteilnehmer:innen

Rikes neues Modell über den Zusammenhang von Lesen und Bevölkerungsstruktur

Rike Na, das ist doch was. Jetzt können wir deine Abiaufgabe etwas verbessern. Soll ich mal? Ich habe da eine Idee:

Es sollen

… der Anteil der weiblichen Bevölkerung in D
… der Anteil der männlichen Bevölkerung in D

sein, den Anteil Diverser nehmen wir als 0.8 % an. Alle drei Gruppen zusammen bilden 100 % oder

Dann sollen

… der Anteil der gern lesenden Bevölkerung in D
… der Anteil der gern lesenden Bevölkerung bei den diversen Deutschen

sein. Wenn 76 % der Frauen und 69 % der Männer gern lesen, dann kann ich eine weitere Gleichung aufschreiben:

Natürlich muss

es sind ja Anteile.

Charly Okay, dann haben wir 2 lineare Gleichungen, die erste können wir in die 2. einsetzen: Aus (1) folgt

eingesetzt in (2)

Das ist eine lineare Gleichung mit 2 Unbekannten und . Das gibt eine Ebene, wenn wir das grafisch darstellen, in Abhängigkeit von und :

Unendlich viele Lösungen der Geschlechteranteile

08_2022_lineare Ebene
Grafische Darstellung der Abhängigkeit .

 

Hey Rike, es gibt unendlich viele Lösungen!

Rike Ja, zeig mal, …, okay, lass uns mal die Ecken deiner Ebene ansehen, da liegen die Extremwerte.

Absurde Lösungen zur Bevölkerungsstruktur

00.99200.6845
0.992000.7539
0.992010.7619
00.99210.6925
0.50.4920.50.7235

Einige spezielle Lösungen von (1) und (2)

Bei liegt das Minimum mit

Es wird angenommen, wenn es in Deutschland keine Frauen gäbe und wenn die Diversen überhaupt nicht gerne lesen. Bei haben wir das Maximum mit

Das ist der Fall, wenn es keine Männer gäbe und wenn alle Diversen gerne lesen.

Charly Haha, in diesem Szenario würde ich gar nicht leben, das will ich aber nicht, ich habe hier in Potsdam meinen Traumjob und meine Liebe gefunden, sollte ich dann Frau sein oder keine Angabe zum Geschlecht machen?

Rike Haha! Charly als Frau.

Charly Lacht nicht! Ich verstehe sehr viel von Frauen.

***

Übungsaufgaben

  1. Löse die Aufgabe mit der ursprünglichen Intention.
  2. Vergleiche diese Lösung mit den Werten des Punktes in der Herleitung oben.

Lösungen

  1. Aus (3) folgt

    In (4) eingesetzt:

  2. ist eine weitere Lösung mit
  3. Dh. wenn es 50 % Frauen gäbe und wenn die Hälfte der Diversen gerne liest, dann erreichen wir die Aussage von 72 % gerne lesender Männer und Frauen (ohne das 3. Geschlecht) näherungsweise.