Rike erzählt Ben weitere Anekdoten aus ihrer Kindheit.
Rike Wir hatten also Koordinatensysteme und Vektoren bei Wiezorek, wir haben die Länge von Vektoren nach dem Satz des Pythagoras berechnet, haben immerzu kleine mechanische Aufgaben gerechnet, wo man Vektoren für die resultierende Kraft addieren musste, und schließlich kamen Aufgaben, wo die Projektion einer Kraft auf eine Gerade berechnet werden sollte.
Wiezoreks Einführung des Skalarproduktes
Autos, die den Berg hochfahren, Gärtner, die einen Rasenmäher schieben oder Pferde, die einen Wagen mit einem Ritter zogen und die Neigung der Deichsel bekannt war. Lauter unerschrockene Helden, die die Welt jeden Tag besser machen!
Ben Haha! Jetzt bist du aber sehr streng!
Rike Ah! Dann kam der Tag, an dem Wizorek uns die Arbeit erklärte: Als die Kraft , die auf einen Weg projiziert wurde, multipliziert mit der Länge des zurückgelegten Weges:
Naja, dieses kannst du berechnen, wenn du den Winkel und die Länge des Vektors kennst:
Ben Okay.
Rike Ja, das ist schon klar, aber dieses hat Wiezorek als Skalarprodukt von und definiert.
Ben Ich glaube, wir hatten das auch so ungefähr. Was ist dein Problem?
Rike Er hat das Skalarprodukt als mechanische Arbeit im 2D-Raum definiert! Und was ist, wenn es keine mechanische Arbeit gibt, die Winkel sich nicht messen lassen oder die Räume mehr Dimensionen haben?
Ben Hmm.
Rike Und außerdem ist das Skalarprodukt nicht ein zusätzliches Add on, eine nette kleine geometrische Eigenschaft, die man auswendig lernen soll und für diese Rasenmäher-Auto-Ritter-Aufgaben braucht, sondern ganz fundamental. Wenn man das Skalarprodukt in einem Vektorraum hat, dann und erst dann kann man darin Winkel und Längen messen, Projektionen berechnen und und und ... !!!
Ben Rike, ist ja gut! Wie bist du denn mit Wiezorek klargekommen? Hast du ihn wirklich gefragt, wie er das Skalarprodukt berechnet, wenn es keine mechanische Arbeit gibt oder wenn er keine Winkel zwischen den Geraden hat?
Rike Ja, das habe ich!
Ben Und?
Rike Er ist sehr wütend geworden, hat meine Eltern in die Schule zitiert und mich in die letzte Reihe gesetzt.
Ben Tatsächlich?
Rike Ja!
Ben Und deine Eltern?
Rike Die haben mich in Schutz genommen. Meine Mutter hat mir dann das Skalarprodukt erklärt.
Vektorraum X
Und das geht so: Zunächst braucht man einen linearen Raum mit Koeffizienten in oder . Meist heißt er auch Vektorraum. In dem sind die Addition von Vektoren, das Vielfache ihrer Vektoren und das Assoziativgesetze erklärt
Es gibt einen Nullvektor mit der Eigenschaft:
Zu jedem Vektor gibt es einen negativen Vektor , sodass
Ben Aaah, ist eine Gruppe bzgl. der Addition.
Rike Okay, du weißt ja gut Bescheid! Außerdem brauchen wir noch ein paar sinnvolle Eigenschaften für die Vielfachen der Vektoren:
für alle und bzw. .
Ben Okay. Das kann ich mir schon im 2- oder 3-dimensionalen Vektorraum vorstellen.
Rikes Skalarprodukt in X
Rike Ja, richtig. Jetzt kannst du im Vektorraum ein Skalarprodukt als Abbildung von zwei Vektoren in die reellen oder komplexen Zahlen:
definieren. Es muss die Eigenschaften haben:
wieder für alle und bzw. .
Ben Na gut, so stelle ich mir das Skalarprodukt auch vor. Ich kenne es meist nur reell, aber okay.
Rike Wenn du das hast, dann hast du auch die „Länge von Vektoren“, nämlich
Und für den Abstand zweier Vektoren und hast du dann als
Dieser Abstand erfüllt alle Eigenschaften einer Norm, das freut alle Mathematikerinnen und Mathematiker, denn damit haben sie einen normierten Raum. Das hat Wiezorek natürlich auch in seinem Raum oder , aber er hat es als Eigenschaft aus der Darstellung von Vektoren genommen.
Ben Hmm.
Rike Wenn ich jetzt außerdem fordere, dass jede konvergente Folge in diesem Raum mit dieser Norm auch einen Grenzwert besitzt, dann haben ich einen sogenannten Hilbertraum.
Ben Aha, da ziehst du ja einen großen Bogen: von Descartes mit seinem Koordinatensystem über Euklid mit seiner Geometrie von Punkten, Geraden und dem Parallelenaxiom bis hin zu Hilbert! 2000 Jahre Mathematik!
Orthonormalsystem
Rike Na klar, das muss so schon sein. Und jetzt kommt das Beste! In jedem Hilbertraum kann man ein Orthonormalsystem finden, eine Art Basis. Das sind die Einheitsvektoren auf den Koordinatenachsen. Nennen wir die mal . Die Länge 1 kriegen wir durch die Forderung
Außerdem müssen immer zwei von ihnen orthogonal aufeinander stehen:
Im wären das zum Beispiel:
Damit kann man jeden Vektor im Hilbertraum als Summe dieser Einheitsvektoren mit reellen oder komplexen Koeffizienten darstellen, die man noch dazu sehr leicht mit dem Skalarprodukt ausrechnen kann:
Zerlegungssatz
Im bedeutet das, dass ein Vektor, sagen wir mal
als Summe der Anteile in die 3 Richtungen geschrieben werden kann:
Diese Zahlen vor den Einheitsvektoren kriegst du aus dem Skalarprodukt der Vektoren mit den Einheitsvektoren auf den Koordinatenachsen:
Ben Und welches Skalarprodukt nimmst du, liebe Rike?
Rike Na, im reellen endlich dimensionalen Vektorraum über nehme ich:
und über :
Im wäre das
Ben Okay, ist ja okay.
Die Wiezorek-Projektionsaufgabe
Rike Jetzt kann ich so eine typische Wiezorek-Projektionsaufgabe: Berechne die orthogonale Projektion des Vektors
auf den Vektor
sehr viel klarer und schneller lösen!
Ben Aha!
Rike Ja, Wir machen aus einen Einheitsvektor , in dem wir durch seine Länge teilen und projizieren auf :
Damit kriegen wir sofort die Lösung:
Ben Na gut, das ist schon überzeugend, es steckt aber viel Mathematik in diesem Zerlegungssatz drin!
Rike Stimmt, doch am Ende ist er sehr folgerichtig und intuitiv! Oder war er etwa zu abstrakt für dich?
Ben Hahaha!
***
Übungsaufgaben
- Löse die Wiezorek-Projektionsaufgabe!
- Vergleiche den Aufwand und Abstraktionsgrad mit dem von Wiezorek aus der Formel
und dem Ansatz
Lösungen
Rikes Zugang
wird normiert:
Projektion von auf diesen Einheitsvektor:
Wiezoreks Lösungsweg
Aus Betrachtungen zur Arbeit ergibt sich
Mit dem Ansatz, dass auf der Geraden liegt – in parametrischer Schreibweise
erhält er:
Nun berechnet er das Skalarprodukt von und :
Jetzt kommt die andere Seite der oberen Gleichung. Es ist
Wegen
erhält er nun:
also
und so mit dem Ansatz
Ziemlich umständlich!