Rike, Charly und Ben diskutieren immer noch das 2-Urnen-Spiel. Ben ist aufgefallen, dass sie bei ihren Betrachtungen zur Zufallsverteilung der Überschusswerte die zeitliche Entwicklung des Spiels ganz außer Acht gelassen haben.
Brownsche Bewegung
Ben Diese Funktionsverläufe der Surplus-Werte kommen mir merkwürdig bekannt vor.
Charly Na klar! Haha! Das sehe ich jeden Tag!
Ben Ja, klar! Es ist so präsent, dass ich es verdränge.
Charly Ölpreise, Infektionsgeschehen ...
Ben Aber was für ein Modell steckt dahinter?
Charly Das ist die brownsche Bewegung! Die beschreibt die zufällige Geschwindigkeit eines Teilchens in einem Volumen oder auch die Preisentwicklung oder die Anzahl der Corona-Infizierten und vielleicht die Surplus-Werte in einer von den beiden Urnen.
Ben Aha! Die brownsche Bewegung?! Ein Random Walk? Wie können wir das prüfen?
Charly Warte, hier: Das allgemein anerkannte mathematische Modell ist der Wienerprozess. Der wird seit 100 Jahren untersucht und ist ein schönes Modell, nicht zu einfach, ja, schon anspruchsvoll, Norbert Wiener hat das vorangetrieben. Jetzt ist es ein aktuelles Forschungsthema.
Ben Gut.
Wienerprozess für kleine Fallzahlen
Charly Wir setzen die zeitliche Entwicklung des Surplus-Wertes als Wienerprozess an:
Damit ist die Liste der Surpluswerte aus deinen Zufallszahlen ab dem Zeitpunkt gemeint. Damit es wirklich ein Wienerprozess ist, musst du unter anderem schauen, ob die Differenz
für alle und unabhängig, normalverteilt mit und einer Standardabweichung ist. Dann hätten wir ein schönes physikalisches und ökonomisches Analogon, außerdem könnten wir dann ein paar Eigenschaften des Prozesses vorhersagen.
Ben Okay. Ich berechne das mal. Können wir mal für die zeitliche Differenz eine neue Variable nehmen – zum Beispiel
Charly Na klar. Sag mal Ben, diese Differenz hat so eine seltsame Gestalt: Bei nur einem Zeitschritt, also bei kriegst du nur die Zahlen 1 und -1. Hmm, das muss am Urnenspiel selbst liegen. Warte mal, wenn eine Kugel aus einer Urne herausgenommen wird, dann ist Änderung des Surplus-Wertes natürlich -1, wenn sie hinzukommt ist sie +1, wenn sie drin ist, wird sie 0. Lass uns nun die zeitliche Änderung berechnen. Irgendwie wird das jetzt kompliziert!
0 | -1 | 0 | 1 | 0 | 1 | 2 | 1 | 2 | 3 | … | |
-1 | 0 | 1 | 0 | 1 | 2 | 1 | 2 | 3 | 4 | … | |
0 | 1 | 0 | 1 | 2 | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | … | |
-1 | -1 | 1 | -1 | -1 | 1 | -1 | -1 | -1 | -1 | … | |
Surpluswerte aus Bens Zufallsgenerator, um einen Zeitschritt nach links verschoben, um 2 Zeitschritte, Differenz |
Aha! Richtig, hat nur die Werte . hat nur die Werte -2, 0, 2, usw.
Ben Stimmt. Dann wird dieses aber kaum eine Chance für die Normalverteilung mit Erwartungswert Null haben.
Charly Hmm, das haben wir ein Problem.
Chi-Quadrat-Test
Ben Ich teste das mit Rikes Chi-Quadrat-Test.
Charly Naja, mit größerer Zeitdifferenz ∆ gehen die Erwartungswerte und die Standardabweichung immer mehr auseinander. Wenn du die Differenz von 80 nimmst, hast du nur noch 20 Würfe zu analysieren. Ist das nicht etwas zu wenig?
Wienerprozess für große Fallzahlen
Ben Okay. Ich kann natürlich auch viel länger testen. Sind 2000 Würfe okay?
Charly Ja, das beweist mathematisch zwar gar nichts, aber wir kriegen ein Gefühl.
Ben Gut. Also hier, wenn wir die Differenz zwischen 2 Würfen betrachten…
… haben wir für wieder nur die Werte +1 oder -1. Die Null ist nicht dabei. Die Häufigkeiten der 1 oder -1 liegen bei 1000. Das ergibt einfach keine Normalverteilung. Die einzelnen Punkte sind zu weit von der Gaußkurve entfernt. Der Chi-Quadrat-Test fällt negativ aus.
Ben Aha! Welche Wahrscheinlichkeit hast du genommen? 95 %?
Charly Ja! Aber auch bei 50 % ist er nicht erfüllt.
Fazit
Ben Na, schade, auch wenn wir mit unseren Anforderungen noch etwas heruntergehen, ist dieser Wienerprozess beim 2-Urnen-Spiel kein Wienerprozess – obwohl der zeitliche Verlauf der Surplus-Werte den Eindruck machte. Es hat nichts mit zufälligen Wegen von Viren im Volumen, nichts mit den Schwankungen des Rohölpreises zu tun, Charly – shit happens!
Charly Sehr witzig! Viren! Jetzt hast du den ganzen Abend programmiert und meine Vermutung hat nicht gestimmt.
Rike Aber das ist doch nicht schlimm! Wir müssen doch nicht unsere Modelle zu den Erkenntnissen hin verbiegen! Nur um die Selbstähnlichkeit zu kriegen oder ein paar nette topologische Eigenschaften eines Random Walk zu bekommen? Diese Idee des Wienerprozesses, nämlich
auszurechen, ist doch echt genial. Ihr Beide habt herausgefunden, dass dieses nicht normalverteilt ist, dass der Erwartungswert nahe Null bleibt und die Standardabweichung von nahezu konstant bleibt. Das ist doch was!
Charly Rike, meinst du, dass die Änderungen beim Roulette immer in der Nähe der Null bleiben und die Standardabweichungen recht klein sind und sich kaum ändern? Das ich also – niemals gewinne?!
Rike Ach, Charly!
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Übungsaufgaben
Ermittle den zeitlichen Verlauf und von für das 2-Urnen-Spiel.
Lösung